[Rezi] #17/2018 - Die Mitte der Welt

Autor: Andreas Steinhöfel
Titel: Die Mitte der Welt
Genre: Roman
Verlag: Fischer TB (Frankfurt am Main)
Erschienen: 2000
Seiten: 459
ISBN: 978-3-596-14496-5

"Eines nasskalten Aprilmorgens bestieg Glass, die linke Hand am Griff ihres Koffers aus abgewetztem Lederimitat, die rechte am Geländer einer wackeligen Gangway, einen Ozeanriesen, der im Hafen von Boston zum Auslaufen nach Europa bereitlag.."
(1. Satz)

Persönliche Zusammenfassung:
Phil und Dianne sind es gewohnt als Außenseiter behandelt zu werden. Mit ihrer Mutter Glass leben sie in Visible, einem herrschaftlichen und alten Haus, das die Einwohner der nahen Stadt genauso wenig mögen wie die Bewohner. Dies liegt auch an der Lebensweise Glass‘, die sich nimmt was sie will. Phil, der damit aufgewachsen ist, findet sich plötzlich selbst in einer Lage wieder, die er nie erwartet hat: er verliebt sich in den undurchdringlichen Nicholas. Liebe aber scheint in seiner Familie ungewöhnliche Wege zu suchen und so merkt er schnell, dass ungesagte Worte das Leben genauso schwer machen wir gesagte...

Rezension/Meinung:
Vor einer Weile habe ich die Verfilmung zu „Die Mitte der Welt“ gekauft und wollte vorher noch das Buch lesen. Nur wenige Tage habe ich gebraucht um dieses wunderbare Buch zu lesen, das den Leser mit sich nimmt und an einem Ort rauslässt, der sich Visible nennt und eine ungewöhnliche aber dennoch liebevolle Familie beherbergt.

Die Geschichte wird von Phil erzählt, der mit seinen nüchternen Worten beschriebt, wie er gemeinsam mit seiner Schwester an einem Ort aufgewachsen ist, die deren ganzes Leben prägt. Die Worte wirken oft sehr nachdenklich, nehmen manchmal einen fast poetischen Klang an und können gleichzeitig durch ihre scharfen Kanten kleine Wunden verursachen. Auch wenn es kindliche Szenen gibt, schwingen in den Worten immer kleine Hinweise mit, die darauf hindeuten, dass die Leichtigkeit dieser Erlebnisse trotz allem immer von einer Schwere belastet sind.

Es ist einfach der Erzählung zu folgen, auch wenn es hier in fast jedem Absatz ein Wechsel der Orte und Geschehnisse gibt. Manchmal fragt man sich, in welchem Jahr genau man sich befindet, findet aber schnell wieder den Weg auf die richtige Fährte.
Der Autor spielt mit dem Leser und lässt ihn verfolgen, wie die ungewöhnliche Familienkonstellation einem immer enger werdenden Bund eingeht und gleichzeitig zwei Kinder erwachsen werden und ihre Geheimnisse preisgeben. Mit wachsender Spannung folgt man den Worten und möchte nur wissen, wie all die Ereignisse zueinander passen und wird immer wieder überrascht, wie sich die einzelnen Momente entwickeln.

„Die Mitte der Welt“ ist ein Buch, dass heute wohl am ehesten als „Coming of Age“-Roman bezeichnet werden würde. Gleichzeitig ist es eine Geschichte, die das Thema Homosexualität so leicht anspricht, dass man sich fragt, warum es auch heute noch bei vielen ein Tabuthema ist. Dabei sei gesagt, dass dieses Buch schon vor zwanzig Jahren erschien und diese Art von Geschichte damals wahrscheinlich noch einiges mehr aufgestoßen ist.
Wunderbar ist, wie selbstverständlich die meisten Protagonisten in der Geschichte mit dieser Thematik umgehen und man wünscht sich dies auch in der Realität. Denn was ist an einem Menschen verwerflich, nur weil er jemanden liebt, der das gleiche Geschlecht hat? Er ist dennoch ein Mensch und hat genau wie jeder andere Gefühle!
Der Autor spielt in diesem Roman mit vielen Themen, die zeigen, wie geprägt eine Kindheit sein kann, auch wenn man versucht das beste für seine Kinder zu tun. Dennoch macht er gleichzeitig klar, dass nicht immer alles ist wie es scheint und man manchmal einfach mal an sich selbst denken sollte und nicht daran, was andere denken.

Dies ist ein Buch, dass vor Intensität strotzt und ein schönes Gleichgewicht zwischen Leichtigkeit und Schwermut schafft. Einfühlsam, emotional und abenteuerlustig sind die Seiten mit Worten gefüllt, die den Leser berühren und Gedankenspiele treiben lassen.
Einfach empfehlenswert und wunderbar!


Der Autor:
© Dirk Steinhöfel
Andreas Steinhöfel wurde 1962 in Battenberg geboren, arbeitet als Übersetzer und Rezensent und schreibt Drehbücher – vor allem aber ist er Autor zahlreicher, vielfach preisgekrönter Kinder- und Jugendbücher, wie z. B. »Die Mitte der Welt«. Für »Rico, Oskar und die Tieferschatten« erhielt er u. a. den Deutschen Jugendliteraturpreis. 2009 hat Andreas Steinhöfel den Erich-Kästner-Preis für Literatur verliehen bekommen, 2013 wurde er mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für sein Gesamtwerk ausgezeichnet und 2017 folgte der James-Krüss-Preis. Andreas Steinhöfel ist als erster Kinder- und Jugendbuchautor Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Weitere Bücher (Auswahl):

Quelle: Cover selbst fotografiert. Vita und Bild des Autors von carlsen.de.

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